Im 15. Jahrhundert, zu einer Zeit, die wir heute das Spätmittelalter nennen, als die Hussiten die Lande verwüstet hatten, ließ der Statthalter der Markgrafen die Stadt wieder aufbauen. Die Menschen hofften auf eine friedliche Zeit, jeder half mit, das Leben zu ordnen und die Statthalter-Familie war weise und plante vorausschauend. Gleich hinter dem Friedhof begann ein verwilderter sumpfiger Wald. Wenn am Abend die Nebel wie Leichentücher von der Wiesent heraufzogen, wagte sich dort niemand mehr hin. Hinter dicken Mauern fühlte man sich sicher. Oft hörte man zu dieser Stunde ein Glöckchen, hell und zugleich so irreführend, als käme der Klang aus allen Richtungen. Man erzählte, es sollte einsame Wanderer von ihren Wegen abbringen und sie in die Sümpfe führen, als hätte es ein eigenes Ziel.
Die drei Schwestern Ainbet (Erde), Borbet (Sonne) und Firbet (Mond)
Die Herrschafts-Familie hatte drei Töchter, zwei von ihnen waren Zwillinge, sie hatten andere Gaben als Angst und grobe Arbeit. Man nannte sie in der Burg die Ainbet, die Borbet und die Firbet. Ihre Mutter, eine Frau mit ruhigem Blut in den Adern, hatte sie neben dem christlichen Gott das Dreigefüge der alten keltischen Götter zärtlich gelehrt:
Ainbet, die Erde, die Tatsächliche, die Wurzel,
Borbet, die Sonnenhelle, das Feuer der Tage,
Firbet, die Mondgewandte, die stille Nacht.
Sie waren jung, ernst in ihrer Art, neugierig bis zur Kühnheit, klug und wissbegierig, ein Dreiklang, der dem Vater Stolz, aber auch Sorge bereitete.
Eines Abends, als sich wieder Nebel ausbreitete und das Irrglöcklein zu hören war, zuerst wie eine ferne Spinnwebfaser, dann deutlicher, als läute es dicht unter den Fenstern, trat Ainbet in die Halle, ihre Hände noch nach Erde duftend. Sie hatte mit bloßen Händen nach den Wurzeln von heilenden Kräutern gegraben, die sie tief in der Erde erspürte. »Vater«, sagte sie ohne Furcht, »wir gehen hinaus. Dieses Glöcklein hat einen Namen, und den hört man am besten, wenn man ihm draußen lauscht.«
Der Vater hob die Brauen »Es ist Nacht, Kind. Die Wege sind tückisch!«. Aber Borbet, die mit einem ledernen Armband hinzukam, das die Sonne auf ihren Reisen gefangen zu haben schien, legte die Hand auf seine Schulter. »Die Sonne hat uns nicht gelehrt, vor allem zu fliehen, Vater. Sie lehrt, den Lauf der Dinge zu sehen.« Firbet, mit Haaren, die im dunklen Licht silbern glitzerten, fügte kaum hörbar hinzu: »Und den Mond zu fragen, ob er sich zeigt oder verbirgt.«
So gingen die drei in die Nacht. Sie schlossen das schwere Stadttor hinter sich, der Vater schaute ihnen nach, als wären seine Augen Fackeln und die Glocke läutete laut und eindringlich, nicht von St. Gangolf, sondern irgendwo im Rinnsal zwischen den Weiden, ein hoher, reiner Klang, der wie eine Stimme von sehr weit her klang.
Ainbet lauschte, kniete nieder und legte die Hand auf den Boden. »Es ist kein Mensch, der ruft«, sagte sie. »Es ist, als habe etwas den Ton in die Adern fremder Wesen geschrieben.« Sie spürte Vibrationen, fein und verworren, die aus dem Moor kamen, wie ein alter Puls. »Hier«, flüsterte sie, »laufen die Adern des Landes zusammen. Etwas ist aufgewühlt.«
Borbet hob das Gesicht. »Die Sonne verbrennt nicht alles. Manchmal knüpft sie. Wir müssen sehen, ob der Klang dieses Glöckleins ein Hilferuf ist, ob es vielleicht gefangen ist.« Sie zog eine kleine Scheibe aus Bronze hervor, glänzend geschliffen, auf die sie schon viele Male geschaut hatte, als würde diese den Lauf des Tages zeigen. »Wenn es ein guter Ruf ist, wird die Scheibe ihn spiegeln«, murmelte sie. Als sie die Scheibe über das Schilf hielt, schimmerte sie und fing den Ton ein, mit einem Licht, das sie über Borbet tanzen ließ.
Firbet lächelte kaum, legte eine Hand an ihr Herz und schloss die Augen. »Der Mond spricht in Bildern. Er sagt: Hüte dich vor dem, was will, dass du es lässt, nicht vor dem, was dich ruft.« Dann lehnte sie sich an den Stamm einer Trauerweide. Ihr Atem wurde leiser, und aus dieser Stille trat ein weiteres Geräusch hervor, das Knacken von Zweigen, ein Schritt in nassem Laub, nicht schnell, aber sicher.
»Seht«, sagte Ainbet, »da, eine Spur. Keine Fußspuren, vielmehr Schleifspuren, als hätte jemand etwas über die Erde gezogen.« Sie folgten den Spuren, die ins Dickicht führten, und die Bäume schlossen sich hinter ihnen, als befänden sie sich plötzlich in einem umzäunten Hof, durch den es nur in eine Richtung weiter ging.
Die drei Schwestern finden das Irrglöcklein
Je tiefer sie kamen, desto heller klang das Glöckchen. Doch seine Helligkeit war nicht fröhlich, sondern weiße Klarheit, die die Ohren schmerzhaft treffen konnte. Und dann sahen sie es. Am Rand eines dunklen Teichs hing ein kleines, goldenes Glöcklein, kaum größer als eine Kinderhand, an einem dürren Ast. Es glühte pulsierend mit einem eigenen Atem. Kein Mensch läutete es. Und doch lag in der Luft etwas wie ein Ton von Wehmut, als hätte jemand im Wasser sein letztes Wort verloren.
»Wer bindet ein Glöcklein an schwache Äste über dem Moorrand?« flüsterte Borbet. »Wer möchte, dass Menschen ihm folgen?« »Wer etwas bindet, hat meist gefehlt«, sagte Ainbet. »Und wer in der Tiefe rumort, hat vielleicht gewankt.« Firbet trat vor, und als sie die Hand nach dem Glöcklein ausstreckte, schlüpfte ein Hauch aus dem Wasser, keine Welle, sondern ein Atem, der Form annahm, eine Gestalt aus schwarzem Wasser, hohen Konturen wie ein Mann, doch fließend, als wäre er aus Tinte gezeichnet. Aus dem Sumpf sprangen Schattenhunde, nicht ganz Fell und nicht ganz Rauch, mit Augen wie heiße Kohlen.
Die Luft zog sich zusammen. Der Klang des Glöckleins wurde plötzlich zu einem Singen, das nicht mit Worten sprach, sondern mit Versprechen. »Komm! Komm! Du solltest erkennen, was du verloren hast.« Der Ton webte Bilder vor ihren Augen. Verlorene Schätze, verschüttete Wege, eine Heimkehr, die möglich sei, wenn man nur folgte.
Ainbet rümpfte die Nase. »Versprechungen kann jeder Klang machen. Die Erde hat andere Wörter.« Sie stampfte mit dem Fuß, und eine Wurzel griff wie eine Hand aus dem Moor, zog das Glöcklein vom Stängel und legte es behutsam in Ainbets Hand. Das Glöcklein fühlte sich nicht kalt an, aber schwer von Jahrhunderten.
In diesem Augenblick traten aus dem schwarzen Dunst noch weitere Gestalten. Schwankende Schemen, die wie Hüllen alter Jäger aussahen, mit Augen wie dunkle Brunnen. Sie flüsterten, verzerrt wie Wind in der hohlen Rinde »Gib uns zurück, was du einst nahmst. Lasse uns finden, was uns weggenommen wurde.« Ihre Stimmen klangen nach Klagen, nach Zorn, nach Hunger.
Borbet spannte ihre Finger um die Bronzescheibe. Sie hielt sie dem Glöcklein gegenüber, und plötzlich zersprang das Licht in tausend kleine Punkte, Sonnenfunken wie Goldstaub, welche die Schattenhunde blendeten. »Licht ist kein Gericht, aber es zeigt Ecken und Kanten der Dinge«, sprach sie. »Sie fürchten helles Licht.«
Firbet trat nun vor, ihr Gesicht still wie der Wasserspiegel, und sprach kein Gebet in der Pfarrersprache, sondern Worte, die sie von der Mutter gelernt hatte, alte Worte, die nicht alt klangen, sondern einfach. »Was du rufst, ist nicht, was du verzehren willst. Wer ruft, möge geben. Wer ruft, möge loslassen.« Die Stimme war weich, und der Mond, der hinter einer Wolke hervorlugte, schickte ein dünnes Band Silber über den Teich.
Die schwarzen Gestalten krümmten sich zusammen, unsicher, als hätten sie den Boden unter den Füßen verloren. Das Glöcklein in Ainbets Hand vibrierte, und eine kleine Stimme fraß sich durch die Luft, nicht wie ein Befehl, eher wie ein Kind, das seinen Namen gehört hat. »Ich wurde hier aufgehängt, weil man mich nicht hören wollte. Ich sollte vergessen werden. Doch niemand kann meine Stimme begraben, ohne dass sie etwas anderes ruft.«
Ainbet dachte an die Adern der Erde, an alte Riten, an die Stunden, in denen die Menschen noch mit dem Boden und der Natur redeten, nicht über sie herrschten. »Dieses Glöcklein ist nicht böse!«, sagte sie, »Es ist traurig. Es sucht nicht zu rächen, sondern zu erinnern. Es lockt deshalb den, der zuhört, weil es nur in Klängen antworten kann.«
Die drei Schwestern berieten sich. »Wir sollten es nicht einkerkern«, sagte Borbet schließlich. »Wir können ihm zeigen, wie man richtig ruft.« Firbet nickte. »Und wir können es lehren, wie man nimmt und gibt, wie man nicht lockt, sondern versammelt.« Ainbet drückte das Glöcklein an die Erde, und die Vibrationen liefen zusammen mit einem Impuls aus den Wurzeln. Die Mädchen sangen, jede auf ihre Weise: Ainbet sang die alte Weise der Erde, tief und langsam. Borbet summte das helle Motiv der Sonne, klar und stark. Firbet hauchte die Nachtmelodie, silbern und weich. Ihre Stimmen verwebten sich, bis ein neuer Klang entstand. Kein Lockrufen mehr, sondern ein Ruf der Heimkehr.
Das Glöcklein stimmte ein, aber anders. Seine Töne sprachen nicht einzelne Menschen an, sondern die Seelen, die verloren waren, und sagten ihnen sanft, wohin sie gehen sollten. Die Schattenhunde senkten die Köpfe. Die schemenhaften Jäger wandelten sich zu Trauergestalten, die mit dem Klang ihre alten Namen wiederfanden, genau das, was sie gesucht hatten. Einer nach dem anderen lösten sie sich auf, nicht vernichtet, sondern zurückgezogen in die Tiefe, dorthin, wo sie hingehörten, in das Gedächtnis des Landes, nicht in die Herzen der Lebenden.
Die drei Schwestern daheim mit Vater und Mutter
Als der Morgen graute hörten die Mädchen die Glocken der Hollfelder Kirche und wussten die Richtung nach Hause. Dort hingen die Schwestern das Glöcklein in den Kirchturm, um es fortan läuten zu lassen. Damit seine Stimme, gemischt mit dem Gebet der Kirche und dem Atem der Erde, Weisheit, Vorsicht und Frieden verbreite. Die Menschen von Hollfeld fanden die Mädchen heimkehrend, mit Moosen an den nassen Röcken, aber mit Augen, die neuerdings ein Geheimnis trugen. Der Schlossherr umarmte sie stumm, und der Pfarrer, der wirklich nichts mehr zu sagen wusste, nickte nur, als hätte er einen alten Bund verstanden.
In den Jahren danach läutete das Irrglöcklein an Tagen der Not. Wenn ein Kind des Marktes verloren war im Moor, wenn ein Alter seinen Weg suchte, wenn die Erde selbst den Atem anhielt. Dann erklang ein Ton, der nicht mehr lockte, sondern wies. Und die Leute sagten, dass die drei Schwestern, Ainbet, Borbet und Firbet, Wächterinnen seien zwischen Herrufen und Abweisen, zwischen Nehmen und Geben.
Und wenn die Hollfelder abends am Fenster sitzen und der Nebel wieder einmal von der Wiesent über Hollfeld kriecht, hören die Menschen das Glöcklein und verbinden den Klang mit den Stimmen der Schwestern, die manchmal singen, wenn man genau hinhört, nicht, um zu bannen, sondern um zu erinnern:
Hört hin, wenn die Erde und der Wald flüstern. Folgt nicht blind jedem lauten Ton, sondern dem, der euer Herz anspricht! So ist es in Hollfeld guter alter Brauch, jeden Abend vom Turm von Sankt Gangolf ein Glöcklein zu läuten, damit verspätete Wanderer im Dunkeln ihren Weg nach Hause finden.
Das Irrglöcklein